Wenn eine Ausstellung nach einem Werk betitelt ist, das
selbst nicht in dieser Ausstellung vertreten ist, so muss dies seine
besondere Bewandtnis haben. Eine Bewandtnis, der man als
Eröffnungsredner zumindest nachgehen sollte, auch wenn es den
meisten Besuchern wahrscheinlich nicht auffallen wird.
„Das
merkurische Jahr“ heißt ein
großformatiges Diptychon von Michael Goller, abgebildet auf
der Einladungskarte und von dem hier in der Ausstellung zumindest eine
kleine Vorstudie zu sehen ist.
Die antike Gottheit Merkur, bzw. das Merkurische, steht also als
Leitmotiv über dieser Ausstellung, dem ich ein wenig
nachgegangen bin.
Der im alten Rom „Merkur“ genannte Gott
hieß bei den Griechen „Hermes“ und
dürfte heutzutage vor allem als Gott des Handelns breitere
Bekanntheit genießen (Merxx, römisch Handelsware;
„Merkantilismus“). Eingefleischtere
Mythologiefreunde kennen Hermes vielleicht auch noch als Gott der
Reisenden.Zwar sind Gollers Kunstwerke letztlich auch Handelsware und viel
unterwegs auf Ausstellungen, so dass Schutz und Schirm dieser Gottheit
sicherlich angebracht ist, aber es gibt noch mehr Bezüge, die
den Titel dieser Ausstellung plausibel begründen.
Zunächst lässt sich Hermes vom Griechischen herleiten
und bedeutet so viel wie „wohlgeordnete
Zusammenfügung“. Damit sind wir schon mittendrin in
Michael Gollers Malerei. Was flüchtig betrachtet vielleicht
wie ein mehr oder weniger zufällig zusammengepinseltes
Farbgebilde daherkommt, erweist sich bei genauerem Hinsehen jedoch als
durchdachte Komposition. Man erkennt die gezielte Farbauswahl und den
bewussten Einsatz der künstlerischen Ausdrucksmittel
– eben eine „wohlgeordnete
Zusammenfügung“. Skizzen und Studien sind deswegen
auch wichtige Vorarbeiten für Goller, der allerdings auch dem
Zufall beim Arbeiten noch seinen Raum lässt. In
ständiger Reflexion treibt er seine Bilder voran, verdichtet,
verwirft und übermalt immer wieder. Das kann sich zum Teil
über sehr lange Zeiträume erstrecken -
schließlich kann man in seinen Werken aber immer auch etwas
von diesem Prozess verspüren. Es sind keine glatt gestrichenen
Bilder, keine leblosen Gebilde, sondern impulsiv-leidenschaftliche
Malereien - ganz im Sinne des Merkur, der auch als „Geist
göttlicher Betriebsamkeit“ bezeichnet wird.
Goller ist ein Schichtarbeiter. In seinen Bildern finden sich die
Geschichten als Geschichtetes im wahrsten Sinne des Wortes. Die
übereinander geschichteten Farbschichten lassen
Überlagerungen entstehen, die unten liegendes zum Teil ganz
verdecken, oder aber erst die Ahnung entstehen lassen, dass dort etwas
verborgen liegt, nach dem mit den Augen zu schürfen ist.
Goller legt Fährten aus, lässt uns auf seinen Spuren
umherwandeln. Er verhüllt und enthüllt,
lässt die Dinge sich gegenseitig durchdringen und zu neuen
Konstellationen gerinnen.
Der Einstieg in jedes seiner Gemälde ist wie das
Aufspüren einer Erzählung. Wie ein dickes Buch
hält es für uns einen Schatz an Geschichten bereit.
Es hat fast etwas mit Archäologie zu tun, seinen Werken auf
den Leib zu rücken, sie sprechen zu lassen, denn man muss
diese Schichten für sich freilegen.
Ebenso zu entschlüsseln gilt es die eigentümlichen
Schriftzeichen – eine Gollersche Eigenschöpfung
–, die wie Runen oder steinzeitliche Zeichen in die Farbhaut
hineingekratzt sind und helfen, fast jedes Werk auch begrifflich zu
erfassen. Es gibt keine „Ohne Titel“-Arbeiten in
dieser Ausstellung. Denn Goller ist ein Geschichten-Erzähler,
seine Bilder sind konkret, die Titel poetisch und lakonisch zugleich,
dabei immer richtungsweisend. Damit sind wir wieder bei Merkur, der
auch als Gott der Beredsamkeit gilt.
Merkur hatte eine Neigung zu listigen Bosheiten und beherrschte
hervorragend die Kunst, anderen heimlich das ihre zu entwenden.
Wenngleich Goller auch keine diebischen Ambitionen verfolgt, sind
für seine Arbeiten Zitate und Einschlüsse
verschiedenster Art doch sehr charakteristisch.
Für die im Musikzimmer präsentierten Gemälde
hat sich Goller bei zwei in Annaberg geborenen
Künstlerfreunden „bedient“ . Fotografien von Klaus
Sobolewskis
Skulpturen wurden zum Ausgangspunkt für diesen Zyklus. Der surreale
Charakter der amorphen Gebilde, die er sehr zeichnerisch angelegt hat,
wird durch die breiten Farbflecken unterstrichen, die wie Inseln auf
der Leinwand schwimmen. Für den zweiten Teil verwendete er als Vorlage
Fotografien der skandalumwitterten Barbiepuppen seines
Querschlag-Kollegen Michael Knauth. Die Barbies haben jetzt ihr
Plastikkleid abgestreift, tummeln sich aber munter weiter – nun als
spröde Zeichnungen in Gollers Landschaften.
Aber auch in anderen Arbeiten finden sich diverse Zitate und
Einschlüsse.
Wie Fenster auf dem Computer, die sich mal gewollt – mal
nicht gewollt, plötzlich öffnen und
„Optionen“ oder „Extras“ oder
„Symbole“ bereithalten, öffnen diese
gewissermaßen als eine Bild-im-Bild-Funktion immer neue Aus-
oder Einblicke für den Betrachter.
In „Zimmer
mit Rot“ (großes Vorbild Matisse Roter
Salon) ist der Hintergrund eine aus breiten roten und rosafarbenen
Pinselstreifen aufgebaute Fläche. Wie eine alte Ziegelmauer
bricht diese fast in der Mitte auf und ein schwarzes Loch mit kleinen
Männchen wird sichtbar, das so gar nichts mit der
Interieursszene im Vordergrund zu tun haben scheint.
Die Mehrschichtigkeit und Komplexität, das Gleichzeitige
disparater Geschehen, von dem unsere Tage bestimmt sind, finden sich
hier entsprechend visualisiert.
In den großen Leinwänden ergießen sich
Formen und Inhalte von orchestraler Fülle und Opulenz auf den
Betrachter. Man ist fast geneigt, hier von einem „Horror
vacui“ zu sprechen. Dagegen bilden die Zeichnungen und
Arbeiten auf Papier mit ihrer kammermusikalischen Konzentration eine
Art Gegenpol. Sie sind sparsamer im Bildaufbau und auf wenige Elemente
reduziert. Ganz deutlich wird hier eine weitere Gollersche Eigenheit
sichtbar: eine gewisse Diskrepanz oder Zweigleisigkeit in den
verwendeten Mitteln, was allerdings gut auskalkuliert ist: Exakte
Zeichnungen feinster Linearität, zumeist Stilleben-Szenerien
oder antike Porträtbüsten darstellend, treffen auf
gestische Farbspritzer, Tropfen, Flecken, wodurch die Werke ihre
pulsierende Dynamik und einen eigenen Rhythmus bekommen.
Auch die Gestalt des Merkur bzw. Hermes ist von einer ziemlichen
Ambivalenz und Vielschichtigkeit geprägt: Im Lexikon der Kunst
liest man lapidar: „Hermes: Gott der Herden, der Diebe und
des Handels“. Eine interessante Kombination und Reihenfolge
von hoher Aktualität.
Eine antike Anekdote soll diese Ambivalenz illustrieren:
Hermes stahl Apollon eine Rinderherde, deswegen gilt er eben auch als
Gott der Diebe. Aber mit der Erfindung der Lyra aus einem
Schildkrötenpanzer begeisterte er Apollon derart, dass er die
Herde schließlich behalten durfte. Durch die Erfindung der
Lyra (und der Flöte, was ihm auch noch zugeschrieben wird)
wird Hermes eben auch mit den Künsten in Verbindung gebracht.
Michael Goller gibt in seinen neuen Bildern der Vielschichtigkeit und
Ambivalenz unserer Tage, den komplexen Beziehungssystemen, in denen wir
uns befinden, einen zeitgemäßen Ausdruck, der von
archaischer Kraft und malerischer Verve beseelt ist.
Mit zwei Arbeiten kommt uns Goller hier im Erzgebirge motivisch sehr
entgegen: Das Gemälde „Waldbild“
und die Tuschezeichnung
„Geschnitzter Hirsch“ scheinen wie
für eine Ausstellung im Zentrum des Obererzgebirges gemacht.
Lauern hier unverholen Verkaufsabsichten unweit von Annenkirche und der
großen Kitschgasse (– großen Kirchgasse?)
Wohl kaum, denn es scheint nur schwer vorstellbar, dass das Waldbild
als zentraler Wandschmuck im Vereinszimmer großen Anklang
finden würde. Und es ist ebenso zu bezweifeln, dass die
Zeichnung „Geschnitzter Hirsch“ den
„Röhrenden Hirsch“ als Urkundenmotiv
für die hundertjährige Mitgliedschaft in der
Schützengilde ersetzen könnte.
In diesem Sinne: der Ausstellung viel Erfolg.
Alexander Stoll, Neue Sächsische Galerie, April 2006
--
In his new paintings Michael Goller presents the viewer with the
complexity and ambivalence of this day and age. He expresses these
conditions in a modern way, applying both archaic power and artistic
verve. What at first observation appears to be a more or less
accidental combination of colors, after looking carefully, reveals
itself as a well devised composition. The thoughtful viewer will see
the well-considered use of color and artistic skill of the artist's
fully developed creations. Sketches and studies are important
preparations for Goller, but he also gives way to spontaneity in his
works. His paintings display continuous reflection -- he concentrates
on specific ideas and themes, turns them upside down and inside out. In
some cases this is repetitive, and one can appreciate/understand this
process in his works. They are neither polished nor lifeless creations
but impulsive and impassioned paintings. More intensive study of
Goller's works reveals many narrations. Like a big book the paintings
offer us a wealth of stories. It is a little bit like archaeology, if
we want to discover them we have to "excavate" several layers. Adding
to the interest and mystery of his pieces are his utilization of
peculiar letters – envisioned and included by the artist himself. Like
runic characters or stone-age signs they are scratched into the coat of
paint and help us to conceptualize almost every work. These are
Goller's personal symbols and they represent the complexity and the
concurrence of disparate events which are characteristic of our time.
Shapes and content of orchestral richness and opulence flow profusely
over the large canvases. The observer can almost compare the effects of
these types of visuals to a “horror vacui”. By contrast, the smaller
drawings and works on paper display a much more concentrated use of
artistic elements (as is typical of chamber music) and act as a fine
counterpart to the larger creations. These compositions are more
economical, as they are reduced to few elements. With these simpler
works, another characteristic feature of a Michael Goller creation
becomes apparent: The discerning eye will see a conflict in the
creator's artistic application. Accurate drawings with fine lines --
mostly still-life-scenes or ancient portrait busts -- meet side by side
with gestic paint spatters, drops, and spots to give the works their
own vibrant dynamism and rhythm.
Alexander Stoll, art historian, 2006