Zeichnungen

Heck-Art-Galerie 21.3. – 31.3. 2019
 

Ausstellungsansicht "Zeichnungen", Heck-Art-Galerie   Ausstellungsansicht "Zeichnungen", Heck-Art-Galerie
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Die Handzeichnungen von Michael Goller

Rede zur Eröffnung am 21. März 2019
von Dr. Benjamin Rux, Lindenau-Museum Altenburg


Die Zeichnung, um die es hier heute geht, ist ein der Schrift verwandtes Aufzeichnungssystem. In der griechischen Antike waren Text und Bild eng verwandt. So konnte das lateinische Wort scriptura sowohl die Tätigkeit des Schreibens als auch des Zeichnens benennen. Andererseits steht scriptura für die „Linie“, ohne die weder Schrift noch Bild auskommen.

Über Jahrhunderte stellte die Handzeichnung über ein mimetisches Verfahren Anschaulichkeit komplexer Verfahren und Begebenheiten her. Angefangen hatte alles auf den Wachstäfelchen der Redner in der Antike, wie es bei Cicero und Quintilian beschrieben ist. Später tauchen Arbeiten auf Pergament oder Papier in den Musterbüchern des Spätmittelalters auf. In der Renaissance war die Handzeichnung, der „disegno“, der etymologisch betrachtet so gar nicht verwandt mit dem heute so inflationär gebrauchtem Wort „Design“ zu sein scheint, der König der Künste. Die Handzeichnung („disegno“) verrät in der italienischen Renaissance wieder seine Verwandtschaft mit dem Schreiben („disegnare“). An dieser Verwandtschaft mit den Dichtern, Rhetoren und Historikern machte man in der Renaissance den Unterschied zwischen dem nur malenden Handwerker und dem zeichnenden Künstler fest. Zeichnen war eine durch und durch geistige Tätigkeit. Michelangelo wurde nicht seiner Fresken oder seiner Skulpturen wegen von seinem Biografen Giorgio Vasari als Vollender aller Künste gefeiert, sondern weil er ein Genie der Zeichnung war. In der Handzeichnung laufen alle Künste zusammen: Die „Prima idea“, also die Entwurfszeichnung, die einem Gemälde vorausgeht, die mit wenigen Kreidestrichen hingeworfene Konzeption einer Skulptur, die Grundriss- oder Aufrissskizze einer geplanten Architektur, aber auch die textbildliche Notation einer musikalischen Komposition: Der Zeichner der Renaissance führte den Stift wie der Feldherr den Kommandostab. Mit dem Stift schuf er eine neue Welt aus dem Reich der Ideen. Diese platonische Annahme führte noch im 16. Jahrhundert zum Topos der Gleichsetzung des Künstlers mit Gott, der mit der „docta manus“, der gelehrten Hand oder gar der „göttlichen Hand“, Welt erschafft, wo gerade noch das Nichts residierte. Erst 1986 sollte die „Hand Gottes“ während eines Spiels zwischen Argentinien und England bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Mexiko eine neue Bedeutung bekommen. (Diego Maradona)

Bei Michael Goller stehen Fußball und Zeichnung freilich in einer anderen Verbindung zueinander. Wenn er mit Silberstift zeichnet – und wer zeichnet heute noch wie Michelangelo oder Rembrandt mit dem Silberstift –, oder wenn er mit Tuschfeder, Bleistift oder Farbstift Welten auf Papier erschafft, dann läuft im Radio nebenher nicht selten die Live-Übertragung eines Fußballspiels der Champions League. Goller wählt im Echoraum des Internets dabei einen italienischen oder französischen Kommentar aus – Sprachen, die er zwar nie schulisch gelernt hat, deren Klang und relative Ferne ihn aber erst zur Zeichnung befähigen. Er nennt es „frei werden“ im Kopf, oder besser: empfänglich werden für die Dinge, die sich dem Künstler erst mitteilen, wenn er seine Rationalität herunterfährt. Goller versucht nämlich beim Zeichnen an nichts zu denken. Oder zumindest nur an solche Nebensächlichkeiten wie ein Fußballspiel. Er versucht sich rational vom Zeichenpapier zu entfernen. Es mag auf dem ersten Blick paradox erscheinen, aber der Klang romanischer Sprachen, der Überschlag einer ohne Unterlass plappernden, heißeren Reporterstimme hilft ihm dabei. Da man nicht Nichts denken kann (oder dazu erst 20 Jahre Yoga praktizieren muss) flüchtet Michael Gollers Aufmerksamkeit beim Zeichnen in die Fußballstadien aller Kontinente, oder in Kirchen, wo Messen gefeiert werden, seltener in Konzertsäle. Dann wird der Kopf freier. Und leerer. Ohne des Schlafes Zuflucht zu suchen dämmert der Kopf in fremden Sphären. Die Hände, die dem Kopf sonst stets gehorchen, müssen sich einen anderen Hirten suchen. Sie finden ihn im Reich des Imaginären, des Traumes – im Raum dessen, über das nach Wittgenstein nicht zu sprechen, sondern nur zu schweigen ist – oder zu zeichnen. 

Nach einigen Monaten sind mehrere Zeichnungen entstanden – und ganz nebenbei ein Künstler, der sich passable Kenntnisse im Italienischen, Französischen und Chinesischen angeeignet hat. Der Zeichenstift, der Tiefenbohrungen gleich das Imaginäre, also Vorbildliches und Ungesehenes über die Bewegung des Armes und der Hand auf das Papier zu bannen vermag, geht bei Goller einer ganz anderen Funktion nach als bei den Meisterzeichnern der Renaissance oder in der goldenen Ära Rembrandts. Auch bei dem leidenschaftlichen Zeichner Goethe, der über 7000 Zeichnungen hinterlassen hat, war die Zeichnung noch ein Medium des Geistes, eine Erweiterung des Denk- und Sprechraumes. Erst in der Romantik tritt sie gewissermaßen Schritt für Schritt in Konkurrenz zur Evidenz des Geistes und der Sprache. Carl Blechen und mehr noch der Schriftsteller Victor Hugo dringen in ihren Skizzen, Aquarellen und Gouachen in ein Schattenreich ein, um dem Modus des Weltnachbildens einen Modus der Neuschöpfung entgegenzustellen. Die Zeichnung entwickelt aus dem Geist der Romantik ihren eigenen ikonischen Logos. Paul Klee wird sich der Romantik und im Besonderen der Schriften von Novalis entsinnen, wenn er als Zeichner Sätze in sein Notizbuch notiert wie: „Bei der Kunst ist das Sehen nicht so wesentlich wie das Sichtbarmachen.“

Die Geburtsstunde der Abstraktion ist mit diesem romantischen Gedanken aufs Engste verbunden. „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg“ heißt es bei Novalis. Das Sehen, die äußere Wirklichkeit, ist das bereits Geschaffene, das von der Neuschöpfung auf dem Papier abgelöst wird. So lässt sich nach 1900 der Weg vom impressionistischen Sehen zum expressionistischen Erschaffen in der Kunstgeschichte an vielen Beispielen nachvollziehen. Als vor 100 Jahren das Bauhaus in Weimar gegründet wurde, waren dort Meister, die sich wie Klee, Itten, Kandinsky, Muche, Schlemmer und Feininger dem fernen Reich des Imaginären öffneten, bei weitem in der Überzahl. Über Linien, die sich zu Flächen und Körpern zusammensetzten, wurde ein abstrakter Gegenentwurf zur Realität geschaffen. Aus den Vokabeln des Vorstellbaren, die der Künstler in sich trägt, die aber lange verschüttet waren, quollen nach dem Epochenbruch des Ersten Weltkrieges auf dem Papier Utopien des neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft – sei es im Stil des russischen Konstruktivismus, des Futurismus oder des Expressionismus. „Wenn die äußeren Stützen fallen“, so merkt Kandinsky an, „wendet der Mensch seinen Blick von der Äußerlichkeit ab und sich selbst zu.“ Die geschwungene Linie war eine Vokabel der Sinnsuche. Sie war revolutionär, weil sie eine schmetternde Absage an Nationalismus und Kapitalismus darstellte und den Werten der Kaiserzeit eine gesteigerte Spiritualität entgegenstellte. Sie war radikal, eben weil sie nicht dem Sehen, sondern dem Hineinhorchen in die inneren Quellen oder in die Natur entnommen war. Sie war auch deswegen radikal, weil sie im Mainstream des Materialismus eine metaphysische Linie war.

So waren die gezeichneten Linien bei Klee metaphysisch, die Bilder surreal, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Zeichnungen von Wols, Gerhard Altenbourg und Carl Friedrich Claus waren. In ihren Bildern verfing sich das Wunder auf halber Strecke mit den Gegebenheiten des Irdischen wie in einem Spinnennetz: Zum Beispiel das Wunder der Schöpfung, der kosmischen Zusammenhänge, des Verhältnisses von Mensch, Gesellschaft und Natur. In diese Traditionslinie möchte ich auch die Arbeiten von Michael Goller verorten. Ihr Vorbild ist die Musik, die gleichsam aus einem Reich der Vorstellungen und Einbildungskräfte Töne erschafft, ohne auf das Wirkliche zu verweisen. Auch in der Wesensgleichheit von Zeichnung und Musik stellt sich das Romantische bei Goller ein. Romantisch ist auch die Vorstellung des in aller Stille und Abgeschiedenheit arbeitenden Künstlers. Um auf die verschütteten Quellen vorzustoßen, die eine Verbundenheit von Mensch, Kosmos und Natur einst sprudeln ließen, bedarf es bei Goller der Stille und Ferne von Äußerlichkeiten, reine Verinnerlichung. „Der höchste Grad von Individualität“, so heißt es bei Friedrich Nietzsche, „wird erreicht, wenn jemand in der höchsten Autonomie sein Reich gründet als Einsiedler.“

Michael Goller zieht sich zurück zum Arbeiten und lebt wie ein Mönch minimalistisch in einer Chemnitzer Zweiraumwohnung mit nur einer Kochplatte, vielen Bücher und viel Papier. Sein Arbeitsprozess ist einer Meditation vergleichbar. Um im Kopf frei zu werden, anzukommen, empfänglich zu werden für die inneren bildwirksamen Kräfte, sind Rituale notwendig. Dazu gehören lange Spaziergänge, Sprechübungen, ausgedehntes Flötenspiel und besagte Radioübertragungen in fremden Sprachen, die sich dem Hörer nur bedingt informativ mitteilen. Vielmehr sind sie ein Teppich aus Hieroglyphen, die man bestaunen und deren Klang man nachsinnen kann. Goller verbindet sich durch diese Rituale mit dem Fluss des Immerwährenden. Er tritt aus Platons Höhle und sieht oder besser erfühlt jene Urbilder, die wir in unserer von Funktion und Zielgerichtetheit durchdrungenen Spätmoderne nur noch als Schatten wahrnehmen – wenn überhaupt. Solche Urformen werden Dank der Zeichnungen Gollers für jene sichtbar, die sich auf ein langes Betrachten einlassen. Wir sehen Linien, die sich einmal weit in der Fläche des Papiers ausdehnen, ein anderes Mal wie eine Muskelfaser straff zusammenziehen. Auch die Flächen atmen einmal verschwenderische Weite, einmal Enge und Fülle. Heitere Sommerwölkchen und energiegeballte Gewitterwolken. Wie Membranen oder – um in das Reich der Zoologie zu wechseln – wie Polypen sind Gollers Blätter durch ein unhierarchisches Ausdehnen und Verdichten gekennzeichnet, was durch die Konzentration von unterschiedlichen Schwarzwerten erreicht wird. Die Bildelemente streben Verbindungen zueinander an – aber nicht hierarchisch, sondern anarchisch und wie ein Rhizom mit allerlei Quer- und Seitenverbindungen (also wie etwa die Ingwerwurzel).

Das von den französischen Philosophen Gilles Deleuze und Pierre-Félix Guattari formulierte Denkmodell des „Rhizoms“ ist für Gollers Werkprozess kennzeichnend. Er geht frei an das leere Blatt Papier heran. Er lässt sich rufen, überraschen, ist offen für das Material, ist selbst oft gespannt, was gleich passieren wird. Kein Gedanke soll sich auf dem Papier ausdrücken, keine Botschaft, keine Tagespolitik. Wie zufällig ergeben sich aus Linien Samen oder Bündel, die an Blütenstände erinnern und über Linien miteinander kommunizieren. Mehrere dieser Bündel verbinden sich manchmal zu pflanzenartigen Wesen oder Figuren oder grotesken Apparaten. Das Schwarz ist vorherrschend, nur hin und wieder treten eine oder zwei Farben hinzu. Die Zufälligkeit, das Vertrauen in die Inspiration, geht so weit, dass Goller in eine Kiste mit Bleistiften unterschiedlicher Härtegrade greift und dann mit dem Bleistift leben und zeichnen muss, den er geangelt hat. So gibt er Schritt für Schritt die Herrschaft über das Werk auf. Das Werk ergreift ihn, hat ihn. Nicht Goller macht etwas mit der Zeichnung, sondern die Zeichnung mit ihm.

Gollers so genannte Schriftrollen, von denen wir zwei in dieser Ausstellung sehen, haben eine Höhe von 32 Zentimetern und damit exakt die Länge seines Unterarms. Legt er den Ellenbogen vor dem Papier ab, kann er entspannt bis zum oberen Rand des Blattes zeichnen. Der auf dem Ellenbogen abgestützte Arm des Künstlers ruft mir ein Wort über Paul Klee in Erinnerung: Die Feder in seiner Hand gleiche dem Stift eines Seismografen, dem fern herandringende Wellen diktieren (Erhard Kästner, Heidegger). Klee sprach vom Zufall des Bildes im wörtlichen Sinne: Etwas ist ihm zugefallen, in die Hände gefallen, und von den Händen brachte er es aufs Papier. Der Künstler ist in diesem Verständnis ein Mittler, ein Medium. Kein Wunder, dass das Wort „Zufall“ im deutschen Sprachraum zuerst bei den Mystikern des 14. Jahrhunderts um Meister Eckhart in Gebrauch war.

Doch zurück zu Gollers Schriftrollen. Von denen liegt immer nur ein schmales Fenster vor ihm, so dass Goller nicht wahrnimmt, was links und rechts von diesem Fenster gezeichnet wurde und damit auch hier für den gegenwärtigen Zeichenakt ganz ungebunden ist. Die in diesen Räumen vielfach vertretenen quadratischen Tuschzeichnungen wiederum sind in dem Sinne unhierarchisch, dass sie in einem bestimmten Rhythmus vom Künstler gedreht werden, alle vier Seiten des Blattes mithin gleichberechtigt sind. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Gezeichnet wird gerade dort, wo es das Blatt verlangt. Bearbeitet wird immer nur ein kleiner Ausschnitt. Die Entwicklung eines Blattes erstreckt sich so über Tage und Wochen. Ausschnitthaftigkeit, also das Empfinden des Betrachters, das Bild würde noch weit über die Ränder des Blattes hinaus reichen, stellt sich ein. Die Zeichnung ist Extrakt eines viel größeren Welt- und Sinnzusammenhangs. Hin und wieder finden bei Goller auch Überlappungen und Collagen Verwendung. Vereinzelte Schriftzeichen führen den Betrachter zur Annahme verstandesmäßiger Formulierungen. Die bei näherer Anschauung aber kaum lesbaren und stets mit linker Hand gesetzten skripturalen Zeichen bleiben undeutbar wie das ganze organische Gefüge. Überhaupt ist die Frage der Hände bei Goller essentiell: Er – der Rechtshänder – zeichnet beidhändig. Für bestimmte Flächen überlässt er sich gern der linken Hand, die von der rechten Gehirnhälfte gesteuert wird (also der Gehirnhälfte, die für die kreativen, intuitiven Prozesse verantwortlich ist). So entzieht sich Goller noch ein Stück weiter der Kontrolle des Kopfes beim Zeichnen.

Doch wer oder was führt nun eigentlich Michael Gollers Hand? Und was zeichnen seine Hände auf? Diese Frage kann uns letztlich wohl nicht einmal der Künstler selbst beantworten. Doch das, was sich auf dem Bild schließlich zeigt, was also auf der weißen Fläche geboren wird, ist – so lässt sich abschließend sagen – in jeder Hinsicht geheimnisvoll, poetisch und voller Schönheit.