Rede zur Eröffnung am 21. März 2019
von Dr. Benjamin Rux, Lindenau-Museum Altenburg
Die Zeichnung, um die es hier heute geht, ist ein der Schrift
verwandtes Aufzeichnungssystem. In der griechischen Antike waren Text
und Bild eng verwandt. So konnte das lateinische Wort scriptura sowohl
die Tätigkeit des Schreibens als auch des Zeichnens benennen.
Andererseits steht scriptura für die „Linie“, ohne die weder Schrift
noch Bild auskommen.
Über Jahrhunderte stellte die Handzeichnung über ein mimetisches
Verfahren Anschaulichkeit komplexer Verfahren und Begebenheiten her.
Angefangen hatte alles auf den Wachstäfelchen der Redner in der Antike,
wie es bei Cicero und Quintilian beschrieben ist. Später tauchen
Arbeiten auf Pergament oder Papier in den Musterbüchern des
Spätmittelalters auf. In der Renaissance war die Handzeichnung, der
„disegno“, der etymologisch betrachtet so gar nicht verwandt mit dem
heute so inflationär gebrauchtem Wort „Design“ zu sein scheint, der
König der Künste. Die Handzeichnung („disegno“) verrät in der
italienischen Renaissance wieder seine Verwandtschaft mit dem Schreiben
(„disegnare“). An dieser Verwandtschaft mit den Dichtern, Rhetoren und
Historikern machte man in der Renaissance den Unterschied zwischen dem
nur malenden Handwerker und dem zeichnenden Künstler fest. Zeichnen war
eine durch und durch geistige Tätigkeit. Michelangelo wurde nicht
seiner Fresken oder seiner Skulpturen wegen von seinem Biografen
Giorgio Vasari als Vollender aller Künste gefeiert, sondern weil er ein
Genie der Zeichnung war. In der Handzeichnung laufen alle Künste
zusammen: Die „Prima idea“, also die Entwurfszeichnung, die einem
Gemälde vorausgeht, die mit wenigen Kreidestrichen hingeworfene
Konzeption einer Skulptur, die Grundriss- oder Aufrissskizze einer
geplanten Architektur, aber auch die textbildliche Notation einer
musikalischen Komposition: Der Zeichner der Renaissance führte den
Stift wie der Feldherr den Kommandostab. Mit dem Stift schuf er eine
neue Welt aus dem Reich der Ideen. Diese platonische Annahme führte
noch im 16. Jahrhundert zum Topos der Gleichsetzung des Künstlers mit
Gott, der mit der „docta manus“, der gelehrten Hand oder gar der
„göttlichen Hand“, Welt erschafft, wo gerade noch das Nichts
residierte. Erst 1986 sollte die „Hand Gottes“ während eines Spiels
zwischen Argentinien und England bei der Fußball-Weltmeisterschaft in
Mexiko eine neue Bedeutung bekommen. (Diego Maradona)
Bei Michael Goller stehen Fußball und Zeichnung freilich in einer
anderen Verbindung zueinander. Wenn er mit Silberstift zeichnet – und
wer zeichnet heute noch wie Michelangelo oder Rembrandt mit dem
Silberstift –, oder wenn er mit Tuschfeder, Bleistift oder Farbstift
Welten auf Papier erschafft, dann läuft im Radio nebenher nicht selten
die Live-Übertragung eines Fußballspiels der Champions League. Goller
wählt im Echoraum des Internets dabei einen italienischen oder
französischen Kommentar aus – Sprachen, die er zwar nie schulisch
gelernt hat, deren Klang und relative Ferne ihn aber erst zur Zeichnung
befähigen. Er nennt es „frei werden“ im Kopf, oder besser: empfänglich
werden für die Dinge, die sich dem Künstler erst mitteilen, wenn er
seine Rationalität herunterfährt. Goller versucht nämlich beim Zeichnen
an nichts zu denken. Oder zumindest nur an solche Nebensächlichkeiten
wie ein Fußballspiel. Er versucht sich rational vom Zeichenpapier zu
entfernen. Es mag auf dem ersten Blick paradox erscheinen, aber der
Klang romanischer Sprachen, der Überschlag einer ohne Unterlass
plappernden, heißeren Reporterstimme hilft ihm dabei. Da man nicht
Nichts denken kann (oder dazu erst 20 Jahre Yoga praktizieren muss)
flüchtet Michael Gollers Aufmerksamkeit beim Zeichnen in die
Fußballstadien aller Kontinente, oder in Kirchen, wo Messen gefeiert
werden, seltener in Konzertsäle. Dann wird der Kopf freier. Und leerer.
Ohne des Schlafes Zuflucht zu suchen dämmert der Kopf in fremden
Sphären. Die Hände, die dem Kopf sonst stets gehorchen, müssen sich
einen anderen Hirten suchen. Sie finden ihn im Reich des Imaginären,
des Traumes – im Raum dessen, über das nach Wittgenstein nicht zu
sprechen, sondern nur zu schweigen ist – oder zu zeichnen.
Nach einigen Monaten sind mehrere Zeichnungen entstanden – und ganz
nebenbei ein Künstler, der sich passable Kenntnisse im Italienischen,
Französischen und Chinesischen angeeignet hat. Der Zeichenstift, der
Tiefenbohrungen gleich das Imaginäre, also Vorbildliches und
Ungesehenes über die Bewegung des Armes und der Hand auf das Papier zu
bannen vermag, geht bei Goller einer ganz anderen Funktion nach als bei
den Meisterzeichnern der Renaissance oder in der goldenen Ära
Rembrandts. Auch bei dem leidenschaftlichen Zeichner Goethe, der über
7000 Zeichnungen hinterlassen hat, war die Zeichnung noch ein Medium
des Geistes, eine Erweiterung des Denk- und Sprechraumes. Erst in der
Romantik tritt sie gewissermaßen Schritt für Schritt in Konkurrenz zur
Evidenz des Geistes und der Sprache. Carl Blechen und mehr noch der
Schriftsteller Victor Hugo dringen in ihren Skizzen, Aquarellen und
Gouachen in ein Schattenreich ein, um dem Modus des Weltnachbildens
einen Modus der Neuschöpfung entgegenzustellen. Die Zeichnung
entwickelt aus dem Geist der Romantik ihren eigenen ikonischen Logos.
Paul Klee wird sich der Romantik und im Besonderen der Schriften von
Novalis entsinnen, wenn er als Zeichner Sätze in sein Notizbuch notiert
wie: „Bei der Kunst ist das Sehen nicht so wesentlich wie das
Sichtbarmachen.“
Die Geburtsstunde der Abstraktion ist mit diesem romantischen Gedanken
aufs Engste verbunden. „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg“ heißt
es bei Novalis. Das Sehen, die äußere Wirklichkeit, ist das bereits
Geschaffene, das von der Neuschöpfung auf dem Papier abgelöst wird. So
lässt sich nach 1900 der Weg vom impressionistischen Sehen zum
expressionistischen Erschaffen in der Kunstgeschichte an vielen
Beispielen nachvollziehen. Als vor 100 Jahren das Bauhaus in Weimar
gegründet wurde, waren dort Meister, die sich wie Klee, Itten,
Kandinsky, Muche, Schlemmer und Feininger dem fernen Reich des
Imaginären öffneten, bei weitem in der Überzahl. Über Linien, die sich
zu Flächen und Körpern zusammensetzten, wurde ein abstrakter
Gegenentwurf zur Realität geschaffen. Aus den Vokabeln des
Vorstellbaren, die der Künstler in sich trägt, die aber lange
verschüttet waren, quollen nach dem Epochenbruch des Ersten Weltkrieges
auf dem Papier Utopien des neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft
– sei es im Stil des russischen Konstruktivismus, des Futurismus oder
des Expressionismus. „Wenn die äußeren Stützen fallen“, so merkt
Kandinsky an, „wendet der Mensch seinen Blick von der Äußerlichkeit ab
und sich selbst zu.“ Die geschwungene Linie war eine Vokabel der
Sinnsuche. Sie war revolutionär, weil sie eine schmetternde Absage an
Nationalismus und Kapitalismus darstellte und den Werten der Kaiserzeit
eine gesteigerte Spiritualität entgegenstellte. Sie war radikal, eben
weil sie nicht dem Sehen, sondern dem Hineinhorchen in die inneren
Quellen oder in die Natur entnommen war. Sie war auch deswegen radikal,
weil sie im Mainstream des Materialismus eine metaphysische Linie war.
So waren die gezeichneten Linien bei Klee metaphysisch, die Bilder
surreal, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Zeichnungen von
Wols, Gerhard Altenbourg und Carl Friedrich Claus waren. In ihren
Bildern verfing sich das Wunder auf halber Strecke mit den
Gegebenheiten des Irdischen wie in einem Spinnennetz: Zum Beispiel das
Wunder der Schöpfung, der kosmischen Zusammenhänge, des Verhältnisses
von Mensch, Gesellschaft und Natur. In diese Traditionslinie möchte ich
auch die Arbeiten von Michael Goller verorten. Ihr Vorbild ist die
Musik, die gleichsam aus einem Reich der Vorstellungen und
Einbildungskräfte Töne erschafft, ohne auf das Wirkliche zu verweisen.
Auch in der Wesensgleichheit von Zeichnung und Musik stellt sich das
Romantische bei Goller ein. Romantisch ist auch die Vorstellung des in
aller Stille und Abgeschiedenheit arbeitenden Künstlers. Um auf die
verschütteten Quellen vorzustoßen, die eine Verbundenheit von Mensch,
Kosmos und Natur einst sprudeln ließen, bedarf es bei Goller der Stille
und Ferne von Äußerlichkeiten, reine Verinnerlichung. „Der höchste Grad
von Individualität“, so heißt es bei Friedrich Nietzsche, „wird
erreicht, wenn jemand in der höchsten Autonomie sein Reich gründet als
Einsiedler.“
Michael Goller zieht sich zurück zum Arbeiten und lebt wie ein Mönch
minimalistisch in einer Chemnitzer Zweiraumwohnung mit nur einer
Kochplatte, vielen Bücher und viel Papier. Sein Arbeitsprozess ist
einer Meditation vergleichbar. Um im Kopf frei zu werden, anzukommen,
empfänglich zu werden für die inneren bildwirksamen Kräfte, sind
Rituale notwendig. Dazu gehören lange Spaziergänge, Sprechübungen,
ausgedehntes Flötenspiel und besagte Radioübertragungen in fremden
Sprachen, die sich dem Hörer nur bedingt informativ mitteilen. Vielmehr
sind sie ein Teppich aus Hieroglyphen, die man bestaunen und deren
Klang man nachsinnen kann. Goller verbindet sich durch diese Rituale
mit dem Fluss des Immerwährenden. Er tritt aus Platons Höhle und sieht
oder besser erfühlt jene Urbilder, die wir in unserer von Funktion und
Zielgerichtetheit durchdrungenen Spätmoderne nur noch als Schatten
wahrnehmen – wenn überhaupt. Solche Urformen werden Dank der
Zeichnungen Gollers für jene sichtbar, die sich auf ein langes
Betrachten einlassen. Wir sehen Linien, die sich einmal weit in der
Fläche des Papiers ausdehnen, ein anderes Mal wie eine Muskelfaser
straff zusammenziehen. Auch die Flächen atmen einmal verschwenderische
Weite, einmal Enge und Fülle. Heitere Sommerwölkchen und
energiegeballte Gewitterwolken. Wie Membranen oder – um in das Reich
der Zoologie zu wechseln – wie Polypen sind Gollers Blätter durch ein
unhierarchisches Ausdehnen und Verdichten gekennzeichnet, was durch die
Konzentration von unterschiedlichen Schwarzwerten erreicht wird. Die
Bildelemente streben Verbindungen zueinander an – aber nicht
hierarchisch, sondern anarchisch und wie ein Rhizom mit allerlei Quer-
und Seitenverbindungen (also wie etwa die Ingwerwurzel).
Das von den französischen Philosophen Gilles Deleuze und Pierre-Félix
Guattari formulierte Denkmodell des „Rhizoms“ ist für Gollers
Werkprozess kennzeichnend. Er geht frei an das leere Blatt Papier
heran. Er lässt sich rufen, überraschen, ist offen für das Material,
ist selbst oft gespannt, was gleich passieren wird. Kein Gedanke soll
sich auf dem Papier ausdrücken, keine Botschaft, keine Tagespolitik.
Wie zufällig ergeben sich aus Linien Samen oder Bündel, die an
Blütenstände erinnern und über Linien miteinander kommunizieren.
Mehrere dieser Bündel verbinden sich manchmal zu pflanzenartigen Wesen
oder Figuren oder grotesken Apparaten. Das Schwarz ist vorherrschend,
nur hin und wieder treten eine oder zwei Farben hinzu. Die
Zufälligkeit, das Vertrauen in die Inspiration, geht so weit, dass
Goller in eine Kiste mit Bleistiften unterschiedlicher Härtegrade
greift und dann mit dem Bleistift leben und zeichnen muss, den er
geangelt hat. So gibt er Schritt für Schritt die Herrschaft über das
Werk auf. Das Werk ergreift ihn, hat ihn. Nicht Goller macht etwas mit
der Zeichnung, sondern die Zeichnung mit ihm.
Gollers so genannte Schriftrollen, von denen wir zwei in dieser
Ausstellung sehen, haben eine Höhe von 32 Zentimetern und damit exakt
die Länge seines Unterarms. Legt er den Ellenbogen vor dem Papier ab,
kann er entspannt bis zum oberen Rand des Blattes zeichnen. Der auf dem
Ellenbogen abgestützte Arm des Künstlers ruft mir ein Wort über Paul
Klee in Erinnerung: Die Feder in seiner Hand gleiche dem Stift eines
Seismografen, dem fern herandringende Wellen diktieren (Erhard Kästner,
Heidegger). Klee sprach vom Zufall des Bildes im wörtlichen Sinne:
Etwas ist ihm zugefallen, in die Hände gefallen, und von den Händen
brachte er es aufs Papier. Der Künstler ist in diesem Verständnis ein
Mittler, ein Medium. Kein Wunder, dass das Wort „Zufall“ im deutschen
Sprachraum zuerst bei den Mystikern des 14. Jahrhunderts um Meister
Eckhart in Gebrauch war.
Doch zurück zu Gollers Schriftrollen. Von denen liegt immer nur ein
schmales Fenster vor ihm, so dass Goller nicht wahrnimmt, was links und
rechts von diesem Fenster gezeichnet wurde und damit auch hier für den
gegenwärtigen Zeichenakt ganz ungebunden ist. Die in diesen Räumen
vielfach vertretenen quadratischen Tuschzeichnungen wiederum sind in
dem Sinne unhierarchisch, dass sie in einem bestimmten Rhythmus vom
Künstler gedreht werden, alle vier Seiten des Blattes mithin
gleichberechtigt sind. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Gezeichnet
wird gerade dort, wo es das Blatt verlangt. Bearbeitet wird immer nur
ein kleiner Ausschnitt. Die Entwicklung eines Blattes erstreckt sich so
über Tage und Wochen. Ausschnitthaftigkeit, also das Empfinden des
Betrachters, das Bild würde noch weit über die Ränder des Blattes
hinaus reichen, stellt sich ein. Die Zeichnung ist Extrakt eines viel
größeren Welt- und Sinnzusammenhangs. Hin und wieder finden bei Goller
auch Überlappungen und Collagen Verwendung. Vereinzelte Schriftzeichen
führen den Betrachter zur Annahme verstandesmäßiger Formulierungen. Die
bei näherer Anschauung aber kaum lesbaren und stets mit linker Hand
gesetzten skripturalen Zeichen bleiben undeutbar wie das ganze
organische Gefüge. Überhaupt ist die Frage der Hände bei Goller
essentiell: Er – der Rechtshänder – zeichnet beidhändig. Für bestimmte
Flächen überlässt er sich gern der linken Hand, die von der rechten
Gehirnhälfte gesteuert wird (also der Gehirnhälfte, die für die
kreativen, intuitiven Prozesse verantwortlich ist). So entzieht sich
Goller noch ein Stück weiter der Kontrolle des Kopfes beim Zeichnen.
Doch wer oder was führt nun eigentlich Michael Gollers Hand? Und was
zeichnen seine Hände auf? Diese Frage kann uns letztlich wohl nicht
einmal der Künstler selbst beantworten. Doch das, was sich auf dem Bild
schließlich zeigt, was also auf der weißen Fläche geboren wird, ist –
so lässt sich abschließend sagen – in jeder Hinsicht geheimnisvoll,
poetisch und voller Schönheit.