Zyklopisches Gastmahl

Domgalerie Merseburg, 8.2. bis 17.3. 2012


Bildgruppe "Händewaschbilder"

Arbeiten aus dem Zyklus "Schriftliches Experiment" im Kabinett der Domgalerie

Peter Piek: Rede zur Ausstellungseröffnung von Michael Goller

Michael Goller ist ein sehr guter Freund. Es tut mir leid, dass ich persönlich werde, aber ich habe das Gefühl, dass es anders nicht geht. Das ich anders nicht glaubhaft vermitteln kann, was hier ausgestellt ist. Und dass ich anders nicht glaubhaft vermitteln kann, was für ein Maler Michael Goller ist.
Michael Goller ist Maler. Das mag vielleicht banal klingen. Das ist es nicht. Ich kenne eine Menge sogenannter Künstler, sogenannter Maler, Studenten, ehemalige Kommilitonen an der Kunsthochschule. Aber ich kenne niemanden, der auch nur ansatzweise so viel für die Malerei geopfert hat, wie Michael Goller. Der sein ganzes Wesen in diese Seinsform Malerei hineinschmeißt. Der sich in Malerei hineinwirft als wäre es alles oder nichts. Als gäbe es keine andere Hoffnung. Michael Goller gibt sein Leben hin für die Malerei. Dadurch macht er Malerei zu Allem. Für Michael Goller ist Malerei Verheißung. Vision einer Seinsform. Eine nicht durch Sinne erfahrbare Sinnlichkeit. Malerei ist Dialog. Ist die reinste Form der Liebe zum Lebendigen. Ist das vollkommene Wesen.
Das Alles sieht man in seinen Bildern. Das ist seine Leistung. Und für diese wird er hier zurecht mit einer Ausstellung gewürdigt. In diesem Zusammenhang möchte ich mich deshalb bei der Domgalerie bedanken. Danke, das Sie Michael Goller ausstellen. Das ist wichtig. Und danke, das Sie, liebe Gäste, heute hier sind. Das ist genauso wichtig.
Michael Goller malt, um zu leben. Und die Malerei schenkt ihm Visionen. Die Vision  versteht er als Auftrag, die Schranken des Verstehens zu überwinden. In eine neue Welt vorzustoßen. Neue Ideen zu entwickeln. Alles ist dabei möglich. Alles fließt dabei mit ein. Sein Studium der Philosophen, der Geschichte, der Kunstgeschichte, sein Studium verschiedener Sprachen, der japanischen Schriftzeichen. Alles kulminiert in seiner Malerei.
Gerade in letzter Zeit ging der Maler durch schwere, die ganze Lebenssituation umwälzende Phasen. Er kennt die dunklen Seiten des Lebens. Und doch - das einzige, was er mir immer wieder erzählte: Wie sehr er sich wünscht, sich wieder voll auf die Malerei konzentrieren zu können. Wie sehr er sich wünscht, dass er sich endlich der Malerei zuliebe neu sortieren, und wieder ganz im Atelier sein kann.
Das erste Mal, das ich mit Michael Gollers Malerei in Berührung kam, war im Jahre 2001. Auf einer seiner ersten Ausstellungen in einer Dachgeschossgalerie in Klaffenbach bei Chemnitz. Schon damals waren die Bilder von einer außerordentlichen malerischen Qualität und auch Eigenheit. Zweifelsohne in einer expressionistischen, man könnte fast sagen Chemnitzer Malereitradition stehend (auch Karl-Schmidt-Rottluff und Ernst Ludwig Kirchner besitzen ja Chemnitzer Wurzeln), zweifelsohne aber auch damals schon höchst eigen und darüber hinausgehend.
In Michael Gollers Malerei finden sich alle wesentlichen Malereiströmungen seit der Moderne. Die abstrakte, die gegenstandslose, informelle Malerei, die konkrete Malerei in den Ausschnitten, ganz besonders - wie sie sehen - natürlich der Neoexpressionismus à la Baselitz und Penck. Figurative Malerei eines Francis Bacon, Die rhythmisch abstrakte Malerei eines Ernst Wilhelm Nay.
Anklänge des Neuen Symbolismus eines Anselm Kiefer finden sich. In dieser Ausstellung sieht man, besonders in der Bildserie "Schriftliches Experiment", die geistige Nähe zu Carlfriedrich Claus, dem Annaberger Künstler, der sehr reich und nachhaltig aus der Schrift für die Malerei schöpfte. Tatsächlich findet man auch Anklänge zum Pop von Rauschenberg und Warhol. Und man möge es kaum glauben, man findet sogar Anklänge zum Neorealismus. Das finde ich selbst auch überraschend. Michael Goller bildet aus all diesen Stilrichtungen, aus 30.000 Jahren Malereigeschichte, eine neue, eigene, bisher nie dagewesene malerische Handschrift.
Wesentliche Stilmerkmale dieser Malerei sind die strukturelle Verschachtelung in Ebenen, wozu die konkreten Ausschnitte gehören, und die sensible Farbigkeit.
Die hier ausgestellten Bilder werden zum ersten Mal in einer Ausstellung gezeigt.
Elementare Werkgruppen der Ausstellung sind die Figurenbilder und die Bilder des Zyklus Schriftliches Experiment. Beide Serien entstanden in den Jahren 2008 bis 2011. Teil der Reihe Figurenbilder ist das auch die den Ausstellungstitel gebende Bildgruppe "Zyklopisches Gastmahl".
Die Reihe Schriftliches Experiment besteht aus Arbeiten auf Papier. Inhaltliche Grundlage bildet die fragmentarische Geschichte Satyricon von Petronius.
Das Schreiben wird dabei zum Malen. Ein Verweben der Sinne mit den Zeichen der Sprache. Der Text wird verschlüsselt und legt damit seinen Inhalt teilweise ab. Wird zum Bild. Lässt das Bild zu. Bleibt dennoch Verbindung und verbindet über den Text die ganze Serie, die zwischen gestischer und figurativer Malerei hin und her pendelt.
Sie alle kennen den Ausdruck: Wo Licht ist, da ist auch Schatten. Das trifft sicher fast überall zu. Schauen Sie. Überall Schatten. Nicht aber bei einem Bild. Das Bild kann Licht ohne Schatten ausdrücken. Die Idee des Vollkommenen ist damit möglich. Das Bild als Gottesbeweis.
Malerei ist Wirklichkeit meine Damen und Herren. Das Ganze wird im Fragment erfahrbar.
Das Bild entsteht im Dialog mit dem Maler. So lange, bis beide sprachlos sind. Dann ist das Bild fertig. Natürlich können diese Gedanken, die sie hier sehen, erst wirken, wenn sie wiederum geschaut werden. Deswegen freuen wir uns alle über so viel Besucher. Auch Sie werden von den Bildern gesehen.
Der Weg ist begonnen. Das umfangreiche Werk des Künstlers ist ein sehr beachtliches Frühwerk. Hunderte Arbeiten auf Leinwand, tausende Papierarbeiten. Etliche Texte und sogar Erzählungen. Der Dialog mit der Malerei ist etabliert und gefestigt. Michael Goller mit seinen 37 Jahren noch ein junger Künstler. Es bleibt spannend, wo ihn die im Dialog mit der Malerei entstandenen Visionen noch hinführen mögen.
Reden wir kurz über das Abbild. Eine Verbindung aus reiner Farbe mit der Sehgewohnheit des Menschen. Man erkennt Arme, Köpfe, Augen und Beine. Das, wenn sie wollen, kann Ihr Tor zum Bild sein. Ihr Eingang in eine Bildwelt, die sich womöglich nicht so leicht und so schnell erfassen lässt. Lassen Sie sich ein. Halten Sie sich fest an was immer ihnen ins Auge fällt. Lassen sie es ein Haken sein, an dem Sie fest machen können. Ziehen Sie von da aus weiter ins Bild und vielleicht können auch Sie eine Reise beginnen. Vielleicht die schon durchgeführte Reise beim Malprozess nachvollziehen oder eine völlig eigene Reise ins Bildinnere beginnen. Vielleicht können Sie Brücken bauen. Gräben überwinden. Dinge neu mit frischen Augen sehen. Vielleicht docken Sie an die inhaltliche Ebene an. Vielleicht denken Sie nach über die Bedeutung des Händewaschens. Oder über die Traurigkeit des Zyklopen der nun mal mit einem Auge geboren worden ist. Legen sie an, wo es nur geht. Lassen Sie sich hineinziehen in ein Meer voller Farben. Wenn Sie es für möglich halten könnten, Sie so als Betrachter sogar selbst zum Maler werden. Das heißt, in einen Dialog mit einem Bild eintreten. Lassen sie Fragen des Bildes zu. Lassen sie auch eigene Fragen zu. Egal welcher Art diese Fragen auch immer sein sollten. Egal wie banal. Denn das Bild ist nicht elitär. Es ist intelligent. Das gewiss. Aber nicht elitär. Nutzen Sie die Gelegenheit, mit dem hier anwesenden Michael Goller persönlich ins Gespräch zu kommen. Vielen Dank für Ihr Interesse.
Peter Piek, Merseburg 7.2.2012

Hans-Erdmann Gringer in der Mitteldeutschen Zeitung zur Ausstellung:

"(...) Und wer da kommt und schaut muss viel Zeit, Muße und zugleich den Willen mitbringen, sich auf die originellen Experimente und versteckten philosophischen Gedankengänge des Künstlers einlassen zu wollen. Dann wird er mit zahlreichen Anregungen belohnt, die lange nachwirken und Raum für eigene Überlegungen und Gedankengänge bieten, die weit über das jeweilige Kunstwerk hinausreichen.
Goller spielt im Ausstellungsmotto zum einen auf den sagenhaften Zyklopen der Antike an, der zwar nur ein Auge hat ("ein Gestalt gewordenes psychologisches Moment"), aber damit nicht etwa schlechter sondern nur anders sieht. Und er verweist auf das antike "Satyricon" des Petronius. Der Text, mittlerweile 2 000 Jahre alt, gilt als eine Art Sittenbild der römischen Gesellschaft mit zahlreichen Anspielungen, die auch Goller zuhauf in die Collagen einbringt, mit meist ruhelosen Strichfiguren, einzelnen Gesichtern und Textpassagen querbeet, die in monatelanger Kleinarbeit entstanden.
Petronius' Werk ist nur in wenigen Teilen überliefert, was für Goller allerdings kein Problem darstellt. Er sieht dieses Fragmentarische wie Novalis als eine ästhetische Komponente. "Wenn es ganz wäre, hätte es mich wahrscheinlich nicht wirklich interessiert." Und er fasst das Fragment als ein "Modell der Wirklichkeit, die wir ja auch nur fragmentarisch zu erfassen vermögen." Und dem Betrachter zugewandt sagt er: "Ich verlange ihm nicht viel ab, ich biete ihm etwas an." Dabei setzt er im Schaffensprozess auch auf einen "offenen Ausgang", den er selbst nicht vorhersehen könne. Es gebe ja immer wieder unterschiedliche Arten des Zugangs, so Goller.
Dafür hat er auch das Schriftbild auf den Zeichnungen und Collagen (alles Petronius-Texte) verändert. Die Buchstaben der eingestreuten Textpassagen sind wie archaische Zeichen quasi in die Höhe verlängert gezogen, lassen sich mal von links nach rechts und umgekehrt lesen. Doch dazu ist einige Übung notwendig. Goller: "Das ist wie Japanisch lernen. Am Anfang sieht man nur Zeichen. Dann lässt sich langsam eine Strukturierung erkennen und schließlich begreift man den Text. Es ist durchaus ein Wagnis, das ich faszinierend finde." Eine Anspielung auf eine immer komplizierter und undurchschaubarer werdende Welt? Möglicherweise.
Ähnliches kann man bei den Ölbildern erkennen. Hier erlaubt er sich auch eine Art "Sichtfenster", die er anfangs übermalt oder überklebt, um sie dann teilweise wieder zu entfernen. Es entstehen dadurch mehrere Ebenen sowohl im Wort- wie auch im Bedeutungssinn, so etwa in dem Werk "Kopfträger (Im Wald)". Und er weist auf einen möglichen Wechsel der Befindlichkeiten.
(...) Ein Wagnis? Vielleicht, aber für ihn ein konsequenter Weg auf der Suche nach der eigenen künstlerischen Wahrheit."
Hans-Erdmann Gringer, Merseburg 8.2.2012


Patrik Scherrer zum Bild "Betender":

Von der Malerei her begegnet uns ein bewegtes Bild. Ob es uns auch inhaltlich zu bewegen vermag, muss sich erst zeigen. Denn zunächst geben die expressiven Pinselstriche und andeutenden Formen Rätsel auf. Sie laden unverkennbar zur Spurensuche ein.
Recht deutlich ist eine menschliche Gestalt zu erkennen: Kopf, Oberkörper, Arme, Hände. Sie ist halb dem Betrachter zugewendet und hat die Arme so angewinkelt, dass ein intensiver Blickkontakt mit den Händen entsteht. Doch Kopf wie Hände geben Fragen auf. Was hat das hinter dem mit weißen Pinselstrichen umrissenen Kopf liegende lindgrüne Gesicht zu bedeuten? Es zeigt ein sehendes Auge, während beim angedeuteten Kopf die Augen verbunden erscheinen. Und sind die Hände wirklich Hände? Zeigen sie nicht auch einen Kopf mit verbundenen Augen?
Zwischen den beiden ist ein intensiver Dialog mit alles durchdringenden Blicken zu spüren. Dabei wird der eine wie der andere „Kopf“ von einem roten Farbfeld hinterfangen, das an flammende Flügel denken lässt, an eine treibende und gleichzeitig haltgebende Kraft, die von außen ermutigt, weiter zu machen. Ist hier letztlich nicht eine Person dargestellt, sondern gar zwei? Ganz dunkel ist der Raum zwischen ihnen dargestellt. Es ist, als würde sie etwas Schweres und Unbegreifliches verbinden. Das Zentrum bildet ein schwarzes Quadrat, das mit drei satellitenähnlichen rechteckigen Applikationen mit abstrakten Strichzeichnungen korrespondiert. Ob bewusst ein Bezug zum „Schwarzen Quadrat“ von Malewitsch hergestellt wurde, der mit ihm damals die Empfindung der Gegenstandslosigkeit beim Betrachter hervorrufen wollte und gleichzeitig einen Bezug zu Gott und dem unfassbaren Nichts, aus dem Gott die Welt erschaffen hat, schuf?
Dieser schwarze Mittelpunkt der Arbeit ist vom weißen Arm teilweise umfangen. Durch parallele Strichstrukturen rechts oben im Bild wird der Eindruck geweckt, als wolle die „herzförmige“ Bewegung des Armes über sich hinauswachsen, hin zu dem blauen Bereich oben links, der als einziger im Bild mit der schwarzen Mitte in direkter Verbindung steht. So wird auch suggeriert, dass das, was in der absoluten Verborgenheit zwischen den beiden geschieht, etwas mit dem Himmel zu tun hat, einer Kraft, die über ihnen steht.
Betender nennt der Künstler seine Arbeit. Damit legt er eine Spur, doch die Unsicherheit bleibt. Ist eine allein betende Person dargestellt oder sind es nicht vielmehr zwei Personen, bei denen die Obere für die untere, eher liegende Person betet? Möglich ist auch die Hinwendung des Betrachters zu dem Unbekannten, ganz Anderen, der seine Identität hinter der Maske – Gott – verbirgt? Jedes ist ein schlüssiger Gedankengang. Michael Gollerts Arbeit belehrt nicht im Sinne von „so ist es“ und verkündet keine unumstößliche Wahrheit. Vielmehr zeigt er Spuren und Wege, das Gewohnte als einzige Denk- und Lebensmöglichkeit zu verlassen und sich dem ganz Anderen und Unbekannten zu öffnen und zu nähern … als Betender.
Aus der Darstellung geht hervor, dass Beten nicht nur das Reden wie mit dem guten Bekannten von nebenan über unsere augenblickliche Befindlichkeit ist, über das, was man gerne hätte oder anders möchte. Beten ist hier ein Aufbrechen des menschlich Alltäglichen und das Einlassen auf den unbeschreiblich Anderen. Aus der Bewegtheit der Pinselstriche zu schließen, ist es mit Ringen und Kämpfen verbunden. Es ist eine Auseinandersetzung mit einem Du, das für den Glaubenden im Bitten und Danken, sich Verschließen und Öffnen, Abwehren und Empfangen geschieht, mit einem Du, das doch immer geheimnisvoll nah gegenwärtig ist. Verbundenheit (religio) und Zuwendung sind aus diesem Dialog herauszuspüren. Und doch deuten die dunklen Stellen an, dass Beten auch immer wieder tastender Dialog und suchendes Gespräch ist. Bewegung, die in der Zuwendung zum unbeschreiblich Anderen über sich hinausgeht.
Patrik Scherrer 25.09.2010


Patrik Scherrer zum Bild "Elija in der Wüste":

Ob wir ohne Hinweise das Bildthema finden würden? In unterschiedlich beige-braunen Farbtönen, mehrheitlich mit waagrechten Pinselstrichen auf die Leinwand gebracht, breitet sich das Bildmotiv vor unseren Augen aus. Hier und dort sieht es aus, als würden diese manchmal auch orangen und blauen Farbspuren etwas im Hintergrund verdecken, dann wieder werden sie selbst von rechteckigen Collagen mit Strichmotiven, kleinen Figuren und Schriftzeichen  überlagert. Ein wahrhaft mehrschichtiges Bild.
Am klarsten lässt sich in der rechten Bildhälfte „Steh auf und ess!“ entziffern. Dies ist eine Aufforderung an jemanden, der sitzt oder liegt und wieder zu Kräften kommen soll. Im Bild selbst ist keine Person zu entdecken, auf die diese Worte zutreffen könnten. Doch die ziemlich zentral platzierten Buchstaben „FLŊΛ“ könnten trotz aller Rätselhaftigkeit ein Schlüssel zum etwa gleich langen Wort Elija sein, dem Propheten, der nach der Todesdrohung durch die israelische Königin Isebel Angst und Depressionen bekam und in die Wüste floh. „Dort setzte er sich unter einen Ginsterstrauch und wünschte sich den Tod. Er sagte: Nun ist es genug, Herr. Nimm mein Leben; denn ich bin nicht besser als meine Väter. Dann legte er sich unter den Ginsterstrauch und schlief ein. Doch ein Engel rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Als er um sich blickte, sah er neben seinem Kopf Brot, das in glühender Asche gebacken war, und einen Krug mit Wasser. Er aß und trank und legte sich wieder hin. Doch der Engel des Herrn kam zum zweiten Mal, rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Sonst ist der Weg zu weit für dich. Da stand er auf, aß und trank und wanderte, durch diese Speise gestärkt, vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Gottesberg Horeb.“ (1. Könige 19,4-8)
Über die beiden Schrifthinweise und im Zusammenhang mit der biblischen Erzählung können nun die beige-braunen, tendenziell waagrechten Pinselstriche als Wüstenlandschaft interpretiert werden. Auf der linken Bildhälfte – quasi als Gegenstück zum „Steh auf und iss!“ – findet sich eine Konzentration von anderen Farb-, Form- und Bildfragmenten. Das Auge sucht nach Verbindungen, versucht die einzelnen Elemente zu einem Ganzen zusammen zu fügen … und muss mangels Beweisen aufgeben. Was oder wer hier auch ist, hat sich so in Einzelteile aufgelöst, dass es für den Betreffenden selbst wie für den Betrachter sehr schwer ist, seine Einheit zu finden.
Ein bisschen erinnert das Bild an Situationen der Verwüstung, wie sie sich uns nach Erdbeben oder  Überschwemmungen zeigen. Das Bild kann auch für Menschen wie Elija stehen. Menschen, die sich in verschiedenen Aktivitäten verausgabt und deren Kräfte sich in alle Richtungen verstreut haben. Nun sind sie wortwörtlich niedergeschlagen, befinden sich vielleicht in einer Depression und leiden unter einer lähmungsähnlichen Antriebslosigkeit. So verfügen sie nicht mehr über genügend geistige und körperliche Kräfte, um sich wieder zu sammeln. „Steh auf und iss!“ ist deshalb eine Aufforderung und Ermutigung, sich von der lebensbehindernden Starre zu erheben, mit dem Essen neue Kraft zu sich zu nehmen, um dann mit gesammelten Kräften und als erneuerter Mensch seinen Weg zu gehen. Aus der Wüste heraus ins blühende Land.
Patrik Scherrer, 9.4.2011