Von Torsten Obrist, Essen,
erschienen im Katalog "Rumpelstilzchen", Saarländisches Künstlerhaus 2008.
Wenn der unvoreingenommene Betrachter den Bildern von Michael Goller
das erste Mal begegnet, stellt sich eine Irritation ein, die sich auch
beim zweiten und dritten Blick nicht verflüchtigt. Wir verirren uns in
diesen Bildern, die eine räumliche Verortung, ein Hauptmotiv, einen
klaren Stil oder eine inhaltliche Stringenz vermeiden. Und das ist auch
durchaus so beabsichtigt. Warum soll es der Betrachter leichter haben,
als der Künstler selbst, der sich in einem langwierig suchenden
Prozess, in einem Zwiegespräch von künstlerischer Setzung und
Verneinung, an das schließliche Bild herantastet. Und auch an diesem
Punkt ist lange nicht gesagt, dass in einem einzigen künstlerischen Akt
nicht alles bisherige wieder verworfen wird. Das schon Erkämpfte wird
in einem wilden gestischen Prozess überpinselt, um dann doch wieder mit
eingesetzten Zeichnungen und den Gollerschen Beschriftungen zu enden. –
Und nun kann es wieder von vorne losgehen...
Das Fragmentarische
Alles beginnt mit den Entwürfen, die Goller gerade da, wo er sich
befindet, in seine Quartbüchlein skizziert. Sie zeigen, dass die
späteren Leinwände, so verwirrend sie erscheinen mögen, einer konkreten
motivischen Vorgabe folgen, und dass sie ganz planvoll komponiert sind.
Im Hintergrund der Bilder finden sich häufig realistische Szenerien,
zwar expressiv übersteigert, aber doch deutlich identifizierbar als der
Wirklichkeit entnommen. Und dann wird etwas in Gang gesetzt, das halb
durch den Zufall, halb durch die skizzierten Vorlagen bestimmt wird.
Die Szenerie wird verdichtet, dann überlagert und übermalt mit der
nächsten Bildebene und so fort, was Goller selbst als „Maskierung“
bezeichnet. In einem langen Prozess verschwinden manche Bildebenen
ganz, andere sind nur noch in Fragmenten zu erkennen, so dass formale
und inhaltliche Brüche bildgebend werden. Wie kommt es nun, dass trotz
aller Irritationen die Bilder von Michael Goller eine ganz eigenartige
Homogenität ausstrahlen?
„Durch die Maskierung konnte ich nun rein schematische Fragmente
einbinden und andererseits außerhalb des Schemas nach einer reinen
gestischen Malerei suchen. Es sind die formelle Grundidee und die
Farbe, die am Ende des Aufspaltungsprozesses beide Sichtweisen wieder
zu einem Bild zusammenbringen“*, sagt Goller. Auf die großen Parameter
der Malerei der klassischen Moderne, Figuration und Abstraktion, kommt
es ihm nicht an: Seine Bilder verbinden beide unbekümmert. Dazu noch
einmal der Künstler selbst: „Das Wahre in der Malerei liegt aber nicht
im Gegenständlichen und auch nicht im Nichtgegenständlichen. Ich suchte
nach Zeit und Raum, um die Suche nach dem Urbild intensiv
fortzusetzen.“*
Das Fragmentarische und Dissoziative scheinen perfekt geeignet, das
Urbild unserer Wirklichkeit abzubilden: Im Rauschen der medialen
Eindrücke ist einzig das Flüchtige von Bestand. Die Bilder von Goller
sind in der Lage, beide zu vereinen: Die Flüchtigkeit, denn wir können
in ihnen hin und her zappen, und jeder Quadratzentimeter der Leinwand
eröffnet uns eine neue Geschichte und einen neuen Horizont; Die
Beständigkeit, denn wir wissen und erkennen im Bild, dass hinter jedem
Fragment eine nicht beliebige Vorgeschichte steht, ein schwieriger
Kampf im künstlerischen Prozess, der dauerhaft in den Tiefen der
Leinwand weiter tobt.
Genau genommen haben wir es vor einer Leinwand von Michael Goller stets
mit mehreren Bildern zu tun, die miteinander verschmolzen werden. Die
Malerei eröffnet im Unterschied zu audiovisuellen Medien die
Möglichkeit, alle Bilder nebeneinander in ihrer ganzen Dimension stehen
zu lassen. Goller erwartet gar nicht, dass der Betrachter alle
Bildebenen erfassen und begreifen kann, und trotzdem sind sie natürlich
da, weil der Künstler sie im Schaffensprozess „durchlebt“ hat.
Horror vacui
Aristoteles prägte die längst widerlegte Annahme, dass die Natur keine
Leerstellen erdulde, und bezeichnete dies für die zukünftige
Geistesgeschichte als „horror vacui“, Scheu vor der Leere. Überall ist
„etwas“, und hinter dem Mond ist der Urstoff, der „Äther“. Dieses
fünfte Element scheint auch die Bilder von Goller zu erfüllen, darin
sich alles abspielt. Wenn in dem Bild „Dialog
(Pressekonferenz)“
(Seite 8) ein weißer Wirbel aus konkreter Malerei sich in den
Bildraum zwingt, und sich wie eine bindende Masse zwischen die
disparaten Bildelemente schiebt, glaubt man den Äther zu sehen. Es ist
kein Raum für Leere in diesem Bild.
Es ist kein Raum für Leere in unserer Zeit, möchte man einstimmen, und
auch hier sind Gollers Bilder eine Paraphrase auf unsere Wirklichkeit.
Windows, Zapping, Widgets, Googlen, Bloggen, Secondlife etc: Wem diese
Begriffe vertraut sind, weiß wovon ich spreche. Das mediale Rauschen
ist überall, und über allen Wipfeln herrscht der Mobilfunkmast.
Aber wir haben ja die Malerei von Michael Goller, die mit Pinsel und
Farbe gleichzeitig einen adäquaten Ausdruck und ein Gegenbild unserer
Zeit liefert. In dem Bild „Dialog
(Amoklauf)“
(Seite 10) erahnen wir im Hintergrund eine Gruppe von Menschen, die
sich locker im Bildraum verteilt. Was diese Menschen zusammengeführt
hat, und an welchem Ort sie sich befinden, wissen wir nicht, denn
Goller übermalt mit raumgreifenden Pinselstrichen große Teile der
Leinwand. Wie in einem Amoklauf löscht er die Personen im Hintergrund,
bleibt dabei aber im Rahmen der Komposition: Die hin und her
schaukelnden Pinselstriche sind in einem Spektrum von Pastelltönen
gehalten und ordnen sich wirbelartig um die Bildmitte. Die Leinwand
implodiert förmlich ins Zentrum. Chaos und Ordnung halten sich die
Waage. Dass die Übermalung keineswegs beliebig erfolgt, unterstreicht
Goller mit den schwarzen und grauen „Blasen“, die scheinbar aus dem
Hintergrund empor steigen, und in denen sich in Strichzeichnung ein
Orchester abbildet. - Gleich einer musikalischen Komposition greift
jedes Teil in das nächste, alles ordnet sich dialogisch dem Gesamten
unter.
Schrift und Bild
Den Abschluss des Malprozesses bilden die runenartigen Schriftzüge, die
meist gleichbedeutend mit dem Titel sind, oder aus seinem
Assoziationsfeld stammen. So steht über der rechten Blasenformation im
vorliegenden Bild „Amoklauf“ in einer Schrift, die Goller selbst
erfunden hat. Diese Schrift ist weniger bezeichnend als zeichnerisch zu
sehen. Goller störte „an den bisherigen Schriften deren vordergründige
und somit plakative Lesbarkeit und das damit verbundene Horizontale der
Buchstaben, deren Ausrichtung an einer Fußlinie des Leseflusses“*. Bei
der Entwicklung seiner eigenen Schrift half ihm das Schreiben mit einer
Feder, die in rhythmischen kurzen Strichen ansetzt, und eine
vornehmlich vertikale Ausrichtung hat. Wie bei der germanischen
Runenschrift ist das äußerliche Charakteristikum der Gollerschen
Schrift die Vermeidung waagerechter und gebogener Linien (Runen wurden
häufig in Buchenstäbe geritzt, was durch diese Disposition erleichtert
wurde). Und noch eine weitere Parallele ist augenfällig: Runen wurden
zwar seit der Wikingerzeit meist rechtsläufig geschrieben. Davor aber
war ihre Orientierung nach beiden Seiten möglich. Auch Michael Goller
hat sich eine zeitlang darin geübt, von rechts nach links zu schreiben,
und hat dabei sogar die Schreibhand gewechselt. In unserem Bild ist die
Künstlersignatur ebenfalls in Spiegelschrift von rechts nach links
geschrieben. Auseinandersetzung mit Schrift ist für Goller also ein
wichtiges Element in seiner Malerei. Durch seine Neuerfindung bereinigt
er die Worte von ihrem bezeichnenden Charakter, denn sie sind für den
ungeübten Betrachter nicht sofort und eindeutig zu entziffern. Wie eine
magische Beschwörungsformel ragen sie in das Bild, verrätselt, halb
Zeichnung, halb Schrift.
Das Verhältnis von Schrift und Bild wird bei Goller immer wieder
thematisiert. Weder schließt er sich der These an, dass ein Bild ganz
ohne Begriffe alle Antworten geben kann, noch der These, dass erst der
begriffliche Kontext das Bild zur Existenz führe. Wie Goller sagt, wird
im ersten Fall eine visuelle Antwort auf eine begriffliche Frage
gegeben „und das sind zwei verschiedene Ebenen, zwischen denen der
Betrachter in den seltensten Fällen den passenden
Synchronisationsschlüssel hat.“* Der Interpret dieser Bilder steht vor
einem ähnlichen Zwiespalt: Kann über etwas adäquat gesprochen werden,
das einem anderen Medium, dem der Malerei entstammt, und das daher
Bildsprache ist? Begriffe können deshalb nur Annäherungen liefern,
ersparen aber nicht die wirkliche Erfahrung des Bildes. Im zweiten Fall
wird eben nicht berücksichtigt, „dass es ein Sein im Bild, und vor
allem in der Malerei, gibt, welches sich ausschließlich nur durch das
Bild offenbart.“* Gollers „Beschriftungen“ im Bild stehen in einer
Mittelstellung, denn sie bedeuten Begriffe, die inhaltlich eng mit dem
Bild zusammenhängen, und doch auch bildimmanent als ästhetische Zeichen
im Rahmen der Komposition wirken.
Gang durch die Kunstgeschichte
Ein weiteres Bild aus der Dialog-Serie „Dialog
über den Dächern (2007)“
(Seite 14) verweist auf ein anderes wichtiges Element der Gollerschen
Bildfindung, das bisher noch nicht angesprochen wurde. Häufig zitiert
er in seinen Fragmenten die Geistesgeschichte und die Geschichte der
Malerei, hier die überhaupt ersten überlieferten Bilder, die
Höhlenzeichnungen. Wenn sich dabei auch ein gezeichneter Brontosaurus
findet, ist das mehr als ein Spass, verweist Goller doch darauf, dass
wir uns im Laufe der Menschheitsgeschichte inzwischen ein lebendiges
Bild vom Aussehen der Dinosaurier gemacht haben, dass dieses Bild also
zum kollektiven Gedächtnis der Menschheit gehört, obwohl die Saurier
lange vor dem Erscheinen des Menschen ausgestorben waren.
Wenn man Gollers Atelier besucht, hängen dort überall Bildpostkarten
von Werken aus allen Zeiten der Kunstgeschichte. Die klassische Antike
neben einem Chagall. Dies ist der Fundus, aus dem er einige seiner
Bildfragmente schöpft, und an dem er sich formal wie inhaltlich
bedient. In seinen Bildern verbindet er eine expressive figürliche
Malerei mit einer Zeichnung, die an Picasso oder Cocteau erinnert, ein
kindliches Blümchenbild mit dem kraftvollen Malakt der „Jungen Wilden“,
den abstrakten Expressionismus mit der „Art Brut“. All diese Elemente
finden sich in dem vorliegenden Bild, und doch bleibt es damit
natürlich nur unzureichend beschrieben. Die Dächer, „über“ denen der
Dialog stattfindet, sind skizzenhaft in den Bildvordergrund gerückt,
ohne jegliche räumliche Zuordnung im Bildkontext. Der Dialog selbst
wird durch Bildfetzen und durch kleine blaue Teilchen, die sich frei im
Bildraum verteilen, angedeutet. Er findet unter drei Menschen statt,
von denen zwei zum rechten Bildrand schauen, einer jedoch staunend in
eine offene Welt blickt. Man kann sich vorstellen, dass sich ihr Dialog
wohl um die Kunst und um die geistige Welt dreht. Dies alles vor der
Folie der bereits erwähnten Höhlenzeichnungen. Unwillkürlich denkt man
an Platons berühmtes „Höhlengleichnis“, mit dem die Begrenztheit des
menschlichen Geistes skizziert wird: Die Menschen leben tief unten in
einer Höhle, gefesselt an das Gestein. Sie sind dazu verdammt, ihren
Blick auf die inliegende Höhlenwand zu richten. Hinter ihrem Rücken vom
Eingang her kommt Sonnenlicht, von dem sie aber nichts wissen, nur ab
und zu sehen sie auf der Höhlenwand die Schattenwürfe derer, die am
Höhleneingang vorbeigehen. Das kümmert sie aber auch nicht weiter, denn
das ist die Welt, wie sie sie kennen. Derjenige, welcher sich damit
nicht zufrieden gibt, und mehr wissen will, sich befreit, die Welt
blickt, und den anderen von der Freiheit erzählt, wird für verrückt
erklärt.
Gut möglich, dass sich Michael Goller mit diesem Bild auf Platons
Gleichnis bezieht. Der Künstler ist der Rebell, der hinausschaut, die
Welt schaut, sich dadurch aber auch isoliert, und daran zerbrechen
kann. Goller hat diese Erfahrung am eigenen Leib gemacht, wird aber
keineswegs müde, seine Auffassung von Welt weiter in seiner Malerei zu
vermitteln. Bis heute hat er schon ein sehr umfangreiches Oeuvre
geschaffen, das eigenständig und ungewöhnlich ist. Seine Malerei ist
ein Angebot und eine Aufforderung an uns, einen anderen Blick auf
unsere Welt zu richten. Dabei sind hier aus der Fülle der inhaltlichen
und formalen Motive nur einige wenige zur Sprache gekommen. Es ist noch
viel zu entdecken...
* Alle Zitate aus "Michael Goller:
Häufige Fragen. Malerei und Ich.“ 2005, digital publiziert auf
www.michaelgoller.com