Lichtluft, grenzenlos

Kunstverein Glauchau 17.1. – 1.3. 2015

Michael Goller - Bleistift Zeichnungen in der Galerie art gluchowe


Bild-Text-Kontext

Michael Gollers Arbeit handelt von Zeit und Wirklichkeit, von Geschichte, der Überlagerung von Ebenen der zeitlichen Wahrnehmung, der Freilegung von Verschüttetem und der Projektion einer möglichen Zukunft aus der Gegenwart. Diese verschiedenen uns Menschen zugänglichen Sichtweisen auf eine nur annähernd greifbare Realität, versuchte Michael Goller in der Vergangenheit in einem „synthetischen“ Bild mit fragmentarischen Durchbrüchen in verschiedenen Bildebenen, zu erreichen. Hoch komplex und anspruchsvoll fordern seine früheren Arbeiten den Betrachter energisch auf, sich auseinanderzusetzen.

Seit drei Jahren nun, nach einer Phase des persönlichen Umbruchs, der Neuorientierung, der Askese und Konzentration ist aktuell nun eine völlig neue Werkphase im Schaffen des Künstlers im Entstehen. Die Ebenen der Wahrnehmung verschmelzen nicht mehr in einem Bild, sondern haben sich dreifaltig als „Wahrheitsträger“ ausgeformt. Die zeitlichen Ebenen, die uns Menschen innerlich angelegt sind, das Gefühl für Erinnerung und Geschichte, das Gefühl für Vision und Zukunft und dazwischen die Gegenwart als Momentaufnahme der fortlaufenden, der vergehenden Zeit sind nun einzeln präsentiert. Immer noch hoch komplex und anspruchsvoll geht nun von den Arbeiten eher eine ruhige Energie aus, die aber nicht minder zu einem philosophischen Diskurs ermuntert.

1. Bild

Der reine Strich bahnt sich in den Bleistiftzeichnungen Michael Gollers seinen unwiderruflichen Weg ins Bild. Dabei handelt es sich ausschließlich um Abbilder von Vergangenem, die sich in einem fortwährenden Arbeitsprozess unter der Moderation des Künstlers selbst auf dem Papier organisieren. Den Zugang zu den Bleistiftzeichnungen fand der Künstler in bedeutsamen persönlichen Fotos beispielsweise aus seiner Kindheit, die er nach dem Zeichnen vernichtete, um den Abzeichenprozess mit dem Einmaligen und damit dem Vergänglichen zu konfrontieren. Diese Haltung der Wertschätzung des Abbildes aus seiner eigenen Vergangenheit als einmalige Vorstellung von Geschichte überträgt er mit dieser Erfahrung des Vernichtens nun auf Bilder aus Tageszeitungen. Er entnimmt sie ihrer ursprünglichen Bedeutung und platziert diese, getrieben vom Finden der reinen Linie, auf die großen wie kleinen Papierbögen.

Jeder Moment hat seine eigene Vergangenheit und Zukunft als eine Vorstellung in uns. Das Gewesene ist ausgeformt gewesen, wir haben ein Abbild davon und glauben aufgrund des Abbilds die Geschichte zu erkennen. Sie sind die konzentrierte Präsenz des Gewesenen in der Gegenwart und bilden so (individuelle) Wirklichkeit.

Michael Goller nimmt die Welt auf und bringt sie mit der größtmöglichen Wertschätzung zu Papier. Der Künstler ist der unabdingbare Moderator, Dirigent, Dompteur, viele Begriffe könnten zutreffen, einer sich selbst findenden Komposition. Beim Betrachten der Bleistiftzeichnungen werden wir Inhalte erkennen, die in neue Zusammenhänge gefügt sind. Unsere Erinnerung an die Weltgeschehnisse der letzten Monate wird aufblühen. Die Bilder sind geprägt von der aktuellen Wirklichkeit der Entstehungszeit. Sie reflektieren Reflektionen von Tatsachen, die heute schon Geschichte sind. Was wir persönlich darin sehen, liegt außerhalb der Intention des Künstlers.
Die Bleistiftzeichnungen sind ein figurativer Spiegel der Welt.

Zeichnungen Tusche Feder in der Galerie art gluchowe - Schriftrollen von Michael Goller

2. Text

Eigentlich in Zeichen und Symbolen niedergeschrieben, bleibt der Text in Michael Gollers Schriftrollen in einem Stadium vor der Form, verharrt im Skripturalen. Aus sich fließend beschreibt sie der Künstler mit Tusche geduldig in einem langsamen Prozess, der nur einen Ausschnitt der aufgerollten Rolle freigibt, von links nach rechts und von rechts nach links, beidhändig über eine seiner Ellenlänge angepassten Höhe das Papier. Ornamental, aber vor der Form, bleiben die filigranen Gebilde auf dem Papier über eine Dauer von mehreren Wochen bis Monaten haften. Es werden bewusst keine Inhalte transportiert. Das Konkrete ahnend lässt der Künstler es doch nie zu. Die Form bleibt abstrakt. Die Arbeitsweise erinnert in ihrem Vorgehen an Écriture automatique, die Methode des Schreibens der Surealisten. Poetisch beschrieben heißt das: „Die vom Gehirn befreite Hand bewegt sich, wohin die Feder sie führt; und sie führt Kraft einer erstaunlichen Behexung die Feder so, dass diese lebendig wird, aber weil die Hand jede Verbindung mit der Logik verloren hat, nimmt sie, auf diesem Wege wiederhergestellt, mit dem Unbewussten Verbindung auf. Im Bereich der Musik findet sich der Automatismus am ehesten im Free Jazz.

Sind die figurativ und konkreten Bleistiftzeichnungen wie die bildnerische Version einer möglichen früheren Wirklichkeit, so sind die Schriftrollen eine Vision einer noch nicht gewordenen Wirklichkeit. Langgliedrige Tentakel und zarte Fühler, Punktschwärme und Fächerformen ziehen sich leicht über das gesamte Blatt. Kleine Federstriche formen sich zu Ketten und Gittern aus Tusche. Ein- oder mehrfarbig erinnern Kontraste das Auge an Landschaften, organische Strukturen oder technische Visionen. Sie setzen einen Impuls frei, Formen erkennen zu wollen und  Gedankenverbindungen zu suchen.

Die Form wirkt erst im Betrachter - ähnlich dem Bild - auf eine höchst individuelle Weise. Was wir darin sehen, wenn wir die Schriftrollen betrachten, ist das individuell verschiedene Eigene des Betrachters. Subjektive Assoziationen werden geweckt und persönliche Erinnerungen tangiert. Ein innerer Anstoß durchströmt uns. Wenn wir also ratlos nichts in den Schriftrollen erkennen, keinen Anklang in uns selbst finden, sagt das etwas aus, nur nicht über den Künstler, sondern über uns, den Betrachter.
Die Schriftrollen sind ein abstrakter Spiegel des Inneren.

Stillleben Öl auf Leinwand von Michael Goller im Kunstverein Glauchau

3. Kontext.

Stimmung, Emotion, Laune, Wetter – vieles beeinflusst uns in der Wahrnehmung der Realität, Kontext meint die Einflüsse, mit denen wir in den Gegenwart die Welt und uns Selbst betrachten. Jegliche Annahme ist in unterschiedlichem Kontext einmal wahr einmal falsch.
Ein Schachbrettmuster begegnet uns im Kabinett. Man meint nur schwarz zu sehen. In verschiedenen Lichtwinkeln werden Sie aber erkennen, dass es sich Michael Goller nicht leicht gemacht hat, mit den schwarzen Leinwänden – im Gegenteil. Während in den farbigen Stillleben, hier als Pendant gehangen, für uns Komposition, Farbe, Bildebenen etc. sichtbar sind, so sind diese alle auch für unser Auge unsichtbar in den schwarzen Leinwänden vorhanden. Schwerlich ist die farbige Arbeit, wenn man nur eine Farbe (schwarz) nutzt. Aber auch dünne Pinselstriche, dickborstige Konturen, filigrane Überzeichnungen und Maskierungen, das gesamte Spektrum des geschichteten gollerschen Bildaufbaus sind in den schwarzen Bildern vorhanden. Es sind voll ausgeführte Ölgemälde, auch wenn Sie uns in Ihrerer Monochromie nicht so scheinen.
Der Kontext, das malerische Gegenstück, ist die unausgeformte Wirklichkeit, in der verschiedene Möglichkeiten angelegt sind, um eine voraussetzungslose Gegenwart im Bild zu suchen.

Bild-Text-Kontext – eine Annäherung an Wirklichkeit. Eine Mission: Lichtluft, grenzenlos. Ein Spiegel der Welt, ein Spiegel des Inneren in der vorurteilsfreien Gegenwart.
Es ist mir persönlich noch kein Künstler untergekommen, der sich selbst in der Kunst so weit zurücknimmt und dem Betrachter dabei so viel Raum für dessen Sicht gibt, wie Michael Goller. Es gibt nicht einmal mehr Bildtitel, um der Erfahrung der Realität eine Prägung durch Benennung zu verleihen, sondern um eine freiheitliche Auseinandersetzung, einen unvoreingenommen Dialog, zu ermöglichen.
Mir gefällt diese Achtung vor subjektiven Wahrheiten und individuellem Erleben sehr gut. Zollt es doch einer wichtigen, gern vergessenen Komponente unseres gesellschaftlichen Miteinanders Rechnung: Jeder hat seine eigene Wirklichkeit und der Dialog darüber bringt uns voran und der Realität näher. Nur so kann Toleranz und Verständnis entstehen. Für uns, für andere. Dass es Michael Goller mit seinen dezenten, dem Betrachter Raum und Freiheit gebenden Dreiklang schafft, eine Sensibilität für dieses weitreichende Phänomen zu erzeugen, ist am Puls der Zeit und anlässlich der aktuellen Ereignisse plötzlich auch Teil eines aufklärerischer Auftrag.

Konstanze Wolter, 1/2015


Michael Goller Bleistift auf Papier, 98 x 68 cm


Klangwerk-Konzert mit dem ensemble 01 am 27.2.2015


Siegfried Thiele:
Charis 1 und 2 für Violine solo

Thomas Stöß:
Unerwartete Begegnung für Vla, Cello, Kontrabass und hinzutretende Klarinette

Eliott Charter:
GRA für Klarinette solo

Charles Ives:
erstes Streichquartett


ensemble 01 in der Galerie art gluchowe spielt zur Ausstellung mit Zeichnungen von Michael Goller

ensemble 01: Andreas Winkler, Ruth Petrovitsch, Ulla Walenta, Thomas Bruder