Bild-Text-Kontext
Michael Gollers Arbeit handelt von Zeit und Wirklichkeit, von Geschichte, der Überlagerung von Ebenen der zeitlichen Wahrnehmung, der Freilegung von Verschüttetem und der Projektion einer möglichen Zukunft aus der Gegenwart. Diese verschiedenen uns Menschen zugänglichen Sichtweisen auf eine nur annähernd greifbare Realität, versuchte Michael Goller in der Vergangenheit in einem „synthetischen“ Bild mit fragmentarischen Durchbrüchen in verschiedenen Bildebenen, zu erreichen. Hoch komplex und anspruchsvoll fordern seine früheren Arbeiten den Betrachter energisch auf, sich auseinanderzusetzen.
Seit drei Jahren nun, nach einer Phase des persönlichen Umbruchs, der
Neuorientierung, der Askese und Konzentration ist aktuell nun eine völlig
neue Werkphase im Schaffen des Künstlers im Entstehen. Die Ebenen der
Wahrnehmung verschmelzen nicht mehr in einem Bild, sondern haben sich
dreifaltig als „Wahrheitsträger“ ausgeformt. Die zeitlichen Ebenen, die
uns Menschen innerlich angelegt sind, das Gefühl für Erinnerung und
Geschichte, das Gefühl für Vision und Zukunft und dazwischen die Gegenwart
als Momentaufnahme der fortlaufenden, der vergehenden Zeit sind nun
einzeln präsentiert. Immer noch hoch komplex und anspruchsvoll geht nun
von den Arbeiten eher eine ruhige Energie aus, die aber nicht minder zu
einem philosophischen Diskurs ermuntert.
1. Bild
Der reine Strich bahnt sich in den Bleistiftzeichnungen Michael Gollers
seinen unwiderruflichen Weg ins Bild. Dabei handelt es sich
ausschließlich um Abbilder von Vergangenem, die sich in einem
fortwährenden Arbeitsprozess unter der Moderation des Künstlers selbst auf
dem Papier organisieren. Den Zugang zu den Bleistiftzeichnungen fand der
Künstler in bedeutsamen persönlichen Fotos beispielsweise aus seiner
Kindheit, die er nach dem Zeichnen vernichtete, um den Abzeichenprozess
mit dem Einmaligen und damit dem Vergänglichen zu konfrontieren. Diese
Haltung der Wertschätzung des Abbildes aus seiner eigenen Vergangenheit
als einmalige Vorstellung von Geschichte überträgt er mit dieser Erfahrung
des Vernichtens nun auf Bilder aus Tageszeitungen. Er entnimmt sie ihrer
ursprünglichen Bedeutung und platziert diese, getrieben vom Finden der
reinen Linie, auf die großen wie kleinen Papierbögen.
Jeder Moment hat seine eigene Vergangenheit und Zukunft als eine
Vorstellung in uns. Das Gewesene ist ausgeformt gewesen, wir haben ein
Abbild davon und glauben aufgrund des Abbilds die Geschichte zu erkennen.
Sie sind die konzentrierte Präsenz des Gewesenen in der Gegenwart und
bilden so (individuelle) Wirklichkeit.
Michael Goller nimmt die Welt auf und bringt sie mit der größtmöglichen
Wertschätzung zu Papier. Der Künstler ist der unabdingbare Moderator,
Dirigent, Dompteur, viele Begriffe könnten zutreffen, einer sich selbst
findenden Komposition. Beim Betrachten der Bleistiftzeichnungen werden wir
Inhalte erkennen, die in neue Zusammenhänge gefügt sind. Unsere Erinnerung
an die Weltgeschehnisse der letzten Monate wird aufblühen. Die Bilder sind
geprägt von der aktuellen Wirklichkeit der Entstehungszeit. Sie
reflektieren Reflektionen von Tatsachen, die heute schon Geschichte sind.
Was wir persönlich darin sehen, liegt außerhalb der Intention des
Künstlers.
Die Bleistiftzeichnungen sind ein figurativer Spiegel der Welt.
2. Text
Eigentlich in Zeichen und Symbolen niedergeschrieben, bleibt der Text in Michael Gollers Schriftrollen in einem Stadium vor der Form, verharrt im Skripturalen. Aus sich fließend beschreibt sie der Künstler mit Tusche geduldig in einem langsamen Prozess, der nur einen Ausschnitt der aufgerollten Rolle freigibt, von links nach rechts und von rechts nach links, beidhändig über eine seiner Ellenlänge angepassten Höhe das Papier. Ornamental, aber vor der Form, bleiben die filigranen Gebilde auf dem Papier über eine Dauer von mehreren Wochen bis Monaten haften. Es werden bewusst keine Inhalte transportiert. Das Konkrete ahnend lässt der Künstler es doch nie zu. Die Form bleibt abstrakt. Die Arbeitsweise erinnert in ihrem Vorgehen an Écriture automatique, die Methode des Schreibens der Surealisten. Poetisch beschrieben heißt das: „Die vom Gehirn befreite Hand bewegt sich, wohin die Feder sie führt; und sie führt Kraft einer erstaunlichen Behexung die Feder so, dass diese lebendig wird, aber weil die Hand jede Verbindung mit der Logik verloren hat, nimmt sie, auf diesem Wege wiederhergestellt, mit dem Unbewussten Verbindung auf. Im Bereich der Musik findet sich der Automatismus am ehesten im Free Jazz.
Sind die figurativ und konkreten Bleistiftzeichnungen wie die bildnerische Version einer möglichen früheren Wirklichkeit, so sind die Schriftrollen eine Vision einer noch nicht gewordenen Wirklichkeit. Langgliedrige Tentakel und zarte Fühler, Punktschwärme und Fächerformen ziehen sich leicht über das gesamte Blatt. Kleine Federstriche formen sich zu Ketten und Gittern aus Tusche. Ein- oder mehrfarbig erinnern Kontraste das Auge an Landschaften, organische Strukturen oder technische Visionen. Sie setzen einen Impuls frei, Formen erkennen zu wollen und Gedankenverbindungen zu suchen.
Die Form wirkt erst im Betrachter - ähnlich dem Bild - auf eine höchst
individuelle Weise. Was wir darin sehen, wenn wir die Schriftrollen
betrachten, ist das individuell verschiedene Eigene des Betrachters.
Subjektive Assoziationen werden geweckt und persönliche Erinnerungen
tangiert. Ein innerer Anstoß durchströmt uns. Wenn wir also ratlos nichts
in den Schriftrollen erkennen, keinen Anklang in uns selbst finden, sagt
das etwas aus, nur nicht über den Künstler, sondern über uns, den
Betrachter.
Die Schriftrollen sind ein abstrakter Spiegel des Inneren.
3. Kontext.
Stimmung, Emotion, Laune, Wetter – vieles beeinflusst uns in der
Wahrnehmung der Realität, Kontext meint die Einflüsse, mit denen wir in
den Gegenwart die Welt und uns Selbst betrachten. Jegliche Annahme
ist in unterschiedlichem Kontext einmal wahr einmal falsch.
Ein Schachbrettmuster begegnet uns im Kabinett. Man meint nur schwarz zu
sehen. In verschiedenen Lichtwinkeln werden Sie aber erkennen, dass es
sich Michael Goller nicht leicht gemacht hat, mit den schwarzen Leinwänden
– im Gegenteil. Während in den farbigen Stillleben, hier als Pendant
gehangen, für uns Komposition, Farbe, Bildebenen etc. sichtbar sind, so
sind diese alle auch für unser Auge unsichtbar in den schwarzen Leinwänden
vorhanden. Schwerlich ist die farbige Arbeit, wenn man nur eine Farbe
(schwarz) nutzt. Aber auch dünne Pinselstriche, dickborstige Konturen,
filigrane Überzeichnungen und Maskierungen, das gesamte Spektrum des
geschichteten gollerschen Bildaufbaus sind in den schwarzen Bildern
vorhanden. Es sind voll ausgeführte Ölgemälde, auch wenn Sie uns in
Ihrerer Monochromie nicht so scheinen.
Der Kontext, das malerische Gegenstück, ist die unausgeformte
Wirklichkeit, in der verschiedene Möglichkeiten angelegt sind, um eine
voraussetzungslose Gegenwart im Bild zu suchen.
Bild-Text-Kontext – eine Annäherung an Wirklichkeit. Eine Mission:
Lichtluft, grenzenlos. Ein Spiegel der Welt, ein Spiegel des Inneren in
der vorurteilsfreien Gegenwart.
Es ist mir persönlich noch kein Künstler untergekommen, der sich selbst in
der Kunst so weit zurücknimmt und dem Betrachter dabei so viel Raum für
dessen Sicht gibt, wie Michael Goller. Es gibt nicht einmal mehr
Bildtitel, um der Erfahrung der Realität eine Prägung durch Benennung zu
verleihen, sondern um eine freiheitliche Auseinandersetzung, einen
unvoreingenommen Dialog, zu ermöglichen.
Mir gefällt diese Achtung vor subjektiven Wahrheiten und individuellem
Erleben sehr gut. Zollt es doch einer wichtigen, gern vergessenen
Komponente unseres gesellschaftlichen Miteinanders Rechnung: Jeder hat
seine eigene Wirklichkeit und der Dialog darüber bringt uns voran und der
Realität näher. Nur so kann Toleranz und Verständnis entstehen. Für uns,
für andere. Dass es Michael Goller mit seinen dezenten, dem Betrachter
Raum und Freiheit gebenden Dreiklang schafft, eine Sensibilität für dieses
weitreichende Phänomen zu erzeugen, ist am Puls der Zeit und anlässlich
der aktuellen Ereignisse plötzlich auch Teil eines aufklärerischer
Auftrag.
Konstanze Wolter, 1/2015
Siegfried Thiele:
Charis 1 und 2 für Violine solo
Thomas Stöß:
Unerwartete Begegnung für Vla, Cello, Kontrabass und hinzutretende
Klarinette
Eliott Charter:
GRA für Klarinette solo
Charles Ives:
erstes Streichquartett
ensemble 01: Andreas Winkler, Ruth Petrovitsch, Ulla Walenta, Thomas Bruder